Einmal Schwedt und zurück.

Von Berlin Gesundbrunnen nach Schwedt (Oder). Um elf bin ich da verabredet, im Haus der Bildung und Technologie. Eine gemütliche Uhrzeit, selbst für mich. Ich möchte vorher noch kurz nach der Stadt sehen. Ob die wirklich so häßlich ist wie alle sagen? Also um zehn in Schwedt. So gebe ich das in die Suchmaske ein, finde eine Verbindung und klappe den Rechner zu. Das war dumm von mir. Wie dumm, fällt mir aber erst am nächsten Morgen auf. Jetzt muss ich mir fix ein paar Locken drehen, ein Kleid anziehen und zusehen, dass ich pünktlich im Kino bin. Ich vertrete einen Schiedsrichter. Nicht auf dem Platz, sondern in einer Jury. Ich darf Kurzfilmen Punkte geben. Ich ziehe ein gepunktetes Kleid an. Das war so nicht geplant, nicht das Kleid und nicht die Punkte. Aufgeregt bin ich, und aufgeregt vergesse ich, mal nachzusehen, wie ich anderntags zum Bahnhof komme. Der Rechner weiß, dass der Zug nach Schwedt nur alle zwei Stunden durchfährt. Besser wäre, ich wüsste das auch. Und dass die eine S-Bahn, die ich brauche, nur jede Stunde kommt, hätte mich brennend interessiert. Nur eben in dem Moment nicht, da war das mit den Locken und dem Kleid und den Punkten, da konnte ich nicht.

Am Gesundbrunnen bin ich erst im allerletzten Moment. Mein Zug fährt ein, als ich durch den Tunnel zwischen den Gleisen renne. Die Taschen schlenkern, eine rechts, eine links. Da steht nicht Schwedt auf dem Display, da steht Stralsund und kein Bahnpersonal. Die Abfahrtszeit stimmt, die Stationen auch. Bis Bernau werde ich herausgefunden haben, ob das der richtige Zug ist, denke ich und steige ein. Mit dem letzten Schluck LTE sage ich im Internet Bescheid, dass ich nach Schwedt fahre. Oder halt woanders hin. Hätte ich gewusst, dass es der letzte Schluck Internet ist, hätte ich ihn eventuell anders verwendet.

Obwohl ich all diese Dinge falsch oder zumindest nicht richtig gemacht habe, sitze ich schließlich in einem kleinen blauen Schienenbus nach Schwedt. Die Niederbarnimer Eisenbahn. Inzwischen kenne ich die ganzen Unterwegsbahnhöfe. Pinnow Uckermark ist der nächste Halt, und irgendwann steige ich da bestimmt mal aus, einfach so. Nationalparkbahnhof. Klingt doch nach Wandern mit Stullenpaket und roter Brause.

Im Regionalzug hatte ich erst einen Streckenfahrplan aus Papier gefunden, und noch etwas später einen hilfsbereiten Mitreisenden. Der wusste nicht nur, wie die Bahn-App funktioniert. Er verfügte auch über eine Netzverbindung. Ich hatte keine, und die Fähigkeit, einem Streckenfahrplan gezielt Informationen zu entnehmen, ist mir genau wie meine Handschrift im Laufe des Internets weggekommen. Ich buchstabierte ihm Schwedt, und der Mitreisende fand in weniger als einer Minute heraus, dass ich in Angermünde umsteigen muss. Nee, keine Stunde warten. Nur das Gleis wechseln, und die Eisenbahngesellschaft. Vom roten in den blauen Zug. Das kann so ein Faltblatt nicht abbilden. Andere Eisenbahngesellschaften, die vernetzte Welt, damit möchte sich der Streckenfahrplan nicht mehr beschäftigen. Was das angeht, ist er Renter. Bin ich´n Kursbuch?, fragt er pampig und lässt sich auf nichts ein.

Schwedt hat 3G, das spricht für Schwedt. In Schwedt gibt es zwei Bahnhöfe, das lässt hoffen. Auf einen Kaffee zum Beispiel. Ich steige am zweiten Bahnhof aus, an der Endhaltestelle. Das hat mir die Sekretärin eingeschärft, mit der ich den Termin für heute ausgemacht habe. Nicht in Schwedt Mitte aussteigen, hat sie gesagt, sondern am Nordbahnhof. Dann sind Sie in fünf Minuten bei uns.

Noch zwei andere Menschen wollen nach Schwedt, letzte Haltestelle. Ein Bahnsteig, ein Stück Dach, ein Fahrkartenautomat. Mitten im Wohngebiet, und fast nur Neubauten. Das, was eine Bahnhofshalle war, mit einem Fahrkartenschalter, einem Menschen drin und einer Glasscheibe davor, einem ovalen Sieb zum Durchsprechen und dieser Klappe, wo das Geld hineingelegt und das Zugticket herausgenommen wird, ist geschlossen. Nicht nur jetzt, weil ich so früh bin, sondern auf die endgültige Art geschlossen. Kein Kaffee, nirgends. Kaffee wird nicht mehr nachgefragt. Googlemaps sagt, dass ich richtig bin. Das ist schon der ganze Bahnhof, da kommt nichts mehr nach. Die Wendeschleife, genug Parkplätze, kein einziges Taxi, keine Bushaltestelle. Keine Menschenmenge, der ich mich anschließen könnte. Wer hier strandet, muss warten. Jede Stunde fährt ein Zug zurück.

Vom Bahnhofsvorplatz gehe ich durch das Wohngebiet. Die Lebenshilfe sitzt da. Eine Tagespflege. Zwei ältere Frauen mit zwei älteren Hunden drehen eine gemächliche Vormittagsrunde. Schlendergang, alle vier. Die Luft ist mild, die Sonne scheint. Sie können, sie müssen nicht. Ein Hausmeister fegt den Gehweg vor einer Schule. Die ist groß und sieht neu aus. Frisch gedecktes Dach, großer Hof. Turnhalle und Sportplatz. Ein Kindergarten nebenan. Würde ich mein Kind hier her schicken? Sofort und ohne zu zögern, während ich in Berlin immer noch überlege, welche am wenigsten heruntergekommen ist und wo es überhaupt eine Turnhalle gibt. Ein Mann, der einen Kastenwagen fährt, hält neben dem Schulhausmeister. Ein kurzes Gespräch, dann fegt der eine weiter, der andere fährt weg. Von drinnen hört man die Kinder, und eine kleinere Gruppe ist draußen auf dem Spielplatz. Dass Städte so sauber sein können, obwohl darin Menschen leben. Und dass Berlin immer so verwohnt aussieht. Keine Ahnung, wie das kommt.

  5 comments for “Einmal Schwedt und zurück.

  1. 27. März 2015 at 9:56

    Nur, um das ganz kurz richtig einzuordnen:

    In Schwedt gibt es keinen Nordbahnhof. Da die Strecke im Schwedter Raum fast auf West-Ost Linie verläuft, macht höchstens eine Unterteilung Schwedt West (was es früher auch gab) und Ost (der Endhaltepunkt) Sinn. Der Haltepunkt Schwedt-Mitte ist relativ neu und vor 20 Jahren versetzt worden. Den alten Haltepunkt etwa 800 Meter zurück kann man heute nur noch durch die Fußgängerüberführung erahnen.

    Der Hauptbahnhof war noch vor 70 Jahren ein kleines Juwel. In ganz früheren Zeiten gab es sogar einen Kaiserpavillion, weil der alte Zauselbart hier auch zu Besuch war (Dragonerregiment). Der ganze Bahnhof ist dann aber nach dem Krieg ein Raub der Flammen geworden, ob betrunkene Polen oder Russen weiss ich jetzt nicht mehr genau.
    Letztlich konnte man in Schwedt froh sein, dass ein Abzweig von der Hauptstrecke Berlin-Stettin nach hier verlegt wurde. Und nach der Wende konnte man wiederum froh sein, dass die Strecke trotz fast lachhafter, nicht vorhandener Auslastung beibehalten wurde.

  2. 29. März 2015 at 9:53

    Der “Nordbahnhof”, bloß um es klarzustellen, war mir von der Sekretärin so durchgegeben worden. Zum Glück hat sie dazu gesagt, dass es eben der letzte Halt und nicht “Mitte” ist. Dran steht Schwedt (Oder), wie es sich gehört. Die Schwedter benutzen ihren Bahnhof nicht oft genug, um sich da viele Gedanken drüber zu machen, nehme ich an.

    • 1. April 2015 at 11:04

      Beliebt ist die Durchsage im Zug: Nächster Halt – Schwedt-Oder Mitte.

      Ja, watt denn nu?

      😀

  3. 1. April 2015 at 15:38

    Das ist in der Tat grandios 🙂

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